Syrische Geflüchtete in Deutschland: Sie würden uns fehlen!

Kommentar

Fast eine Million Menschen aus Syrien haben seit 2011 bei uns Zuflucht gefunden. Viele von ihnen blicken hochemotional auf den Sturz des Assad-Regimes. Doch für Freude ist im deutschen Diskurs kaum Platz angesichts der scharfen Töne, mit denen bereits kurz nach Assads Sturz Rückkehr und Abschiebungen hier ansässiger Syrer*innen gefordert werden. Dabei sind sie oft gut integriert.

Foto: Zwei lachende Personen mit bemalten Gesichtern und Fahnen um die Schultern, eine hält eine Rose in der Hand.
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Syrische Frauen feiern in Duisburg das Ende des Assad-Regimes, 10. Dezember 2024.

Noch sind die Freudentränen vieler Syrer*innen nicht getrocknet, noch ist da die vorsichtige Hoffnung auf eine friedliche Zukunft nach 54 Jahren Diktatur und 13 Jahren Krieg in Syrien. Doch, in Berlin und anderswo tönen derweil schon Rufe nach Abschiebungen und „freiwilliger“ Rückführung. In einer Situation, deren Tragweite mit dem Fall der Berliner Mauer vergleichbar ist – in der eigentlich Glückwünsche und Erleichterung über das Ende eines der grausamsten Regime der Welt angebracht wären -, denken einige Politiker*innen öffentlich darüber nach wie man die vormals Schutzsuchenden jetzt schleunigst loswird. 

Dabei geht es um jene Menschen, die Deutschland wegen der einst erlebten Willkommenskultur viel Anerkennung und Dankbarkeit entgegenbringen. Es gäbe also eine hervorragende Grundlage, um sich jetzt auf prosperierende deutsch-syrische Beziehungen vorzubereiten. Auf Beziehungen, in denen all das Potential der gut integrierten, erfolgreich durch das Bildungssystem gegangenen und in ihre Heimat zurückstrebenden Syrier*innen zum Glänzen kommen könnte. Die Ignoranz, mit der einige Politiker*innen reflexartig die Grenze zwischen „uns“ und „denen“ hochziehen und die mutmaßliche Belastung des Systems durch Geflüchtete in den Vordergrund stellen, gefährdet dies. Denn was die Forderer nach Abschiebungen und Rückkehr ausblenden, sind die Lücken, die entstünden, würden die hier lebenden Syrer*innen tatsächlich von heute auf morgen zurückkehren in ihre Heimat.

Wer diese unverantwortlichen und unrealistischen Pauschalforderungen nun stellt, scheint Jahre der Integration, des Spracherwerbs, der Ausbildung, des Schulbesuchs und der Erwerbstätigkeit - vor allem in den sogenannten Mangelberufen - vollkommen aus dem Blick verloren zu haben. Nicht nur haben die hier lebenden Syrier*innen ein Recht auf Schutz und oft ein Umfeld, das ihnen nach Jahren der oft mehrfachen Fluchterfahrung eine persönliche Sicherheit bietet. Viele von ihnen sind inzwischen auch diejenigen, die unsere Kranken versorgen, unsere Kinder erziehen, im Ingenieurswesen oder Hotelgewerbe tätig sind, Taxi fahren und Güter in die Städte und Kommunen befördern.  

Rückführungen würden enorme Lücken in unser System reißen

Angesichts der veränderten Situation in Syrien und der unverständlichen Rückführungs-Debatte schlagen Vertreter*innen des Gesundheitswesens bereits Alarm: Ärztekammern, die deutsche Krankenhausgesellschaft und auch Klinikleitungen warnen davor, dass ein beträchtlicher Teil der über 5.758 syrischen Ärzt*innen Deutschland verlassen könnte. Vor allem in Krankenhäusern kleinerer Städte würden diese Menschen eine entscheidende Rolle bei der Aufrechterhaltung der Versorgung spielen. Irritiert über die Rückführungsbestrebungen äußerten sich aber auch Berufsverbände anderer Branchen.

Nach etlichen von heftigen Debatten geprägten Tagen mahnte schließlich Bundeskanzler Olaf Scholz zur Besonnenheit: Zunächst müsse dafür gesorgt werden, dass die Menschen in Syrien sicher leben können. Klare Worte in Bezug auf die Friedensbemühungen in Syrien fand auch Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock.

Eines jedenfalls ist sicher: Der Verbleib von Syrer*innen in Deutschland hängt zunächst einmal vom geltenden Recht und seiner Umsetzung ab.

Die Rechtslage in Deutschland

Fast eine Million Syrer*innen sind seit Beginn des Bürgerkriegs 2011 nach Deutschland geflohen. In der Mehrzahl wurde den Geflüchteten kein Asyl gewährt, sondern ein Schutzstatus. Konkret bedeutet das, dass sie nicht als Geflüchtete im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt, sondern als ernsthaft bedroht eingestuft wurden. Die Gründe dafür waren angesichts der Lageeinschätzungen vielfältig: Verschwinden, Folter, unmenschliche Behandlung, Bedrohung von Leib und Leben. Der überwiegende Teil der syrischen Schutzsuchenden verfügte heute also nur über einen (zumeist befristeten) humanitären Aufenthaltstitel. 

Nach dem Sturz des Assad-Regimes hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wegen der unklaren Lage in Syrien vorerst alle Entscheidungen über Asylanträge aus dem arabischen Land gestoppt. Derzeit sind etwa 75.000 Anträge von Syrer*innen anhängig. Das Zurückstellen solcher Anträge gilt zwar als gängiges und rechtlich vorgesehenes Mittel, verunsichert die Betroffenen und auch andere Syrer*innen mit Schutzstatus jedoch stark. 

Rechtsexperten weisen darauf hin, dass auch bei einer Neubewertung der Lage in Syrien und im Fall eines positiven Szenarios (etwa einer stabilen Sicherheitslage) ein Widerrufsverfahren der Asylbescheide (§ 73b AsylG) vorgeschrieben wäre. Notwendig wären aber in jedem Fall erneute Einzelfallprüfungen, die sich nach der tatsächlichen Lage vor Ort und der persönlichen Situation richten. Ausgenommen wären selbstverständlich Syrer*innen mit deutschem Pass. Die politischen und humanitären Verhältnisse müssten sich nachweisbar grundlegend und nachhaltig verbessert haben – und das ist auf kurze Sicht nicht absehbar. 

Die derzeitigen und künftigen Entscheidungsträger sollten also die Fallstricke bedenken: Sollte das Bundesamt auch nur einen Bruchteil der Aufenthaltstitel von in Deutschland lebenden Syrer*innen widerrufen, würde das binnen kürzester Zeit das BAMF und die Gerichte lahmlegen - das Asylsystem könnte kollabieren. 

Es gibt viele unideologische (sachliche) Gründe dafür, weder massenhafte Rückführungen noch pauschale Bleiberechte zu fordern. In Zeiten, in denen rechtspopulistische Tendenzen die Akzeptanz des Asylrechts erodieren, muss über die komplexe Situation lösungsorientiert nachgedacht und offen kommuniziert werden.

Erwerbstätigkeit syrischer Staatsangehöriger in Deutschland

Syrer*innen machen in Deutschland 22 Prozent der insgesamt 3,17 Millionen Schutzsuchenden aus und sind nach ukrainischen Staatsangehörigen (31 Prozent) die zweitgrößte Gruppe Schutzsuchender in Deutschland. Gut die Hälfte der syrischen Schutzsuchenden kam nach dem Ausbruch des Krieges in Syrien zwischen 2014 bis 2016 erstmals nach Deutschland. Insgesamt haben zwischen 2016 und 2023 rund 161.000 syrische Staatsbürger*innen den deutschen Pass erhalten.

Rund 863.000 Syrer*innen in Deutschland waren 2023 im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 64 Jahren. Von ihnen waren 42 Prozent erwerbstätig, acht Prozent erwerbslos und rund die Hälfte Nichterwerbspersonen -  etwa, weil sie noch in (Aus-)Bildung waren, weil sie krankheitsbedingt nicht arbeiten konnten oder weil sie keine Arbeitserlaubnis hatten. 

In einem Bericht zur Arbeitsmarktintegration stellt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) fest, dass die Arbeitslosenquote bei längerem Aufenthalt sinkt: Syrer*innen, die sieben Jahre oder länger in Deutschland leben, haben in 61 Prozent der Fälle Arbeit. Tendenz steigend. Zum Vergleich: Die Beschäftigungsquote der 1,3 Millionen Geflüchteten aus der Ukraine (von denen die mehrheit Frauen und Kinder sind) lag im September 2024 bei 29,4 Prozent.

Laut dem Mediendienst Integration arbeiten Syrer*innen vielfach in sogenannten Mangelberufen. Syrische Männer sind vorwiegend in Verkehrs- und Logistikberufen, im Lebensmittel- und Gastgewerbe, im Gesundheitswesen oder im Baugewerbe erwerbstätig. Syrische Frauen arbeiten vor allem in "sozialen und kulturellen Dienstleistungen" etwa als Erzieher*innen oder im Gesundheitswesen.

Deutschland braucht Arbeits- und Fachkräfte

Deutschland fehlte es laut eines aktualisierten Fact Sheets der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) im Jahresdurchschnitt 2022/2023 an 340.372 qualifiziert Verfügbaren für offene Stellen. 2023 konnten vier von zehn offenen Stellen nicht besetzt werden. Der größte Bedarf besteht in Berufen mit technischem Schwerpunkt (etwa Bauelektrik mit über 17.000 offenen Stellen) oder in Sozial- und Gesundheitsberufen (etwa Gesundheits- und Krankenpflege mit ebenfalls über 17.000 nicht besetzten Stellen).

Im Jahr 2022 waren in Deutschland insgesamt über 2,1 Millionen Migrant*innen in Fachkraftberufen beschäftigt. Das entspricht einem Anteil von 11,9 Prozent aller in diesen Berufen Beschäftigten. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten unter Geflüchteten hat sich von 2012 bis 2022 mehr als versiebenfacht.

Arbeitsminister, Wirtschaftsminister oder Sonderbevollmächtigter für Migrationsabkommen, die Deutsche Handelskammer, Wirtschaftsverbände und das Handwerk – sie alle werben in Ländern wie Indien, Georgien, Kenia oder Kolumbien um qualifizierte Arbeitskräfte und sehen sich bürokratischen und konsularischen Hürden gegenüber. Die Bertelsmann Stiftung legt in einem gerade veröffentlichten Bericht dar, dass trotz der gesetzlichen Erleichterungen durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz die Zahl der Erwerbsmigrant*innen im Jahr 2023 nicht ausreichend angestiegen ist.

Wir können uns glücklich schätzen, wenn die Syrer*innen bleiben

Die knapp eine Million Syrer*innen in Deutschland gehören längst zu uns. Viele kamen nach traumatisierenden Kriegs- oder Verfolgungserlebnissen, auf lebensbedrohlichen Fluchtwegen. Manche kamen mit guten Qualifikationen - aber alle mussten neben dem nervenaufreibenden Warten auf einen Status in Sammelunterkünften Geduld aufbringen. Gleiches galt beim Eintritt ins Berufsleben: Fehlende Anerkennung von Qualifikationen machten den Weg zum eigentlich bereits erlernten Beruf länger als erwartet. Aber die Schutzsuchenden haben sich durchgebissen und stehen ihre Frau und ihren Mann für die Wirtschaft und das Sozialsystem. 

Viele Syrer*innen wünschen sich gerade in dieser Zeit, in die Heimat zurückzukehren. Aber sie sprechen auch von den vielen Hindernissen und Unwägbarkeiten.

Anerkennung und Solidarität wären wichtige Gesten, aber in jedem Fall sollten Politiker*innen und Bürger*innen klarsichtig genug sein, die Integrationsleistung anzuerkennen und weiter zu befördern. Wir sollten wissen, dass wir uns glücklich schätzen können, wenn unsere syrischen Kolleg*innen und Nachbar*innen bleiben. 


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de